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Schicksalsbericht Miriam Bezold

Die Tochter von Miriam Bezold erlitt im April 2004 schwerste Verbrühungen II. und III. Grades. Sie hat während der Intensivphase Tagebuch geführt. Ihre Originaleinträge veröffentlicht sie hier mit ergänzenden Kommentaren.

Wie lang ist eine Sekunde ... und wie kann sie Leben verändern?

Es riecht nach frisch gegrillten Bratwürsten und aus dem Radio dröhnt laute Musik. Am 07. April 2004 feiern wir eines der vielen Baustellenfeste unserer Freunde Tina & Silvio. Meine zweijährige Tochter Leonie ist gut drauf, wir spielen miteinander und scherzen. Wir freuen uns beide auf ihren Papa, von dem wir seit ca. einem halben Jahr getrennt leben. Er hatte uns angerufen und mit uns ausgemacht, er besucht uns und bringt eine Familienpizza mit.

Voller Vorfreude verlassen wir die Party und marschieren vergnügt nach Hause, denn ich will Leonie noch baden bevor er kommt. Daheim angekommen, drehe ich gleich das Badewasser an. Heiß. Leonie spielt derweil in ihrem Zimmer. Ich spüre meine Blase, stelle das Wasser kurz ab und begebe mich über den Flur auf die separate Toilette. Denke darüber nach, wie der Abend mit ihrem Vater wohl verlaufen wird.

Plötzlich höre ich laute Schreie. Leonie. Ich bin genervt , weil ich nicht wenigstens mal in Ruhe aufs Kl….. gehen kann. Normaler Alltagsstress einer alleinerziehenden Mutter. Oh nein, sie schreit anders, ich werde panisch. Sie kreischt. Ich stürze mit noch runter gelassener Hose in Richtung Bad. Sehe mein Kind im Vierfüßlerstand im heißen Wasser. Weinend. Schreiend. Was soll ich tun? Ich fühle mich zurückversetzt in meinen Erste Hilfe Kurs. Nehme sie aus der Wanne. Ziehe ihre Kleidung aus. Bedecke sie mit einem nassen, kalten Handtuch. Sie rennt weg. Fetzen hängen von ihrem Körper. Meine Gedanken kreisen. Ich rufe ihren Papa an. Wir müssen ins Krankenhaus fahren. Nein, das geht ja nicht. Sie ist ja nackt. Also rufe ich den Rettungsdienst an: "Meine Tochter hat sich verbrüht und ich kann ihr nichts anziehen, ich glaube Sie müssen sie holen!"…..

Papa kommt. Schreit mich an. Hilft Leonie. Ich stehe nur da. Denke nichts. Nichts.

Rettungswagen und Notarzt treffen ein. Der Arzt erkennt sofort die brenzlige Lage und sediert Leonie, während ich sie am Kopf streichle (An dieser Stelle ein RIESEN Lob an das gesamte Team das uns geholfen hat!! In so einer Situation noch an so was zu denken ist grandios und überaus professionell!!! Danke!) Leonie wird mit dem Hubschrauber nach Mannheim ins Uniklinikum geflogen. In ihre Tasche packte ich: 3 Windeln, 2 Bodys, 1 Schlafanzug, 1 Kuscheltier….. Ich denke nichts.

Die ganze Nacht fahre ich mit meiner Freundin Tina nach Mannheim. In Gedanken bei ihr. Keine Ahnung was wohl passieren wird, auch was eigentlich passiert ist.

3 Tage bleibe ich apathisch und sehe meine Maus da liegen, von oben bis unten in Verbände gewickelt, angeschwollen auf das Doppelte. Ich kann nicht weinen und denke immer noch nichts. Dann ein Gespräch mit dem Arzt (nicht das erste, aber das erste nach dem ich aus meinem Schock endlich erwachte):

Tagebuch

10. April 2004

Liebe Leonie,

heute habe ich erfahren, dass du in Lebensgefahr schwebst! Ich weiß nicht was ich fühlen soll, ich weiß nicht was ich denken soll, ich weiß nicht was ich tun soll! Mir tut mein ganzer Körper weh wenn ich nur daran denke, dich nie mehr lachen zu sehen, nie mehr singen zu hören! Ich vermisse deine Stimme! Du bist so weit weg!! Ich liebe dich!

Aber ich kenne dich auch und deswegen weiß ich, du wirst es schaffen! Du bist stark! Du bist wie ich! Wir stehen das zusammen durch! Ich werde dich nie verlassen und in Gedanken bin ich immer bei dir! Du schaffst es!!

Deine Mama

11. April 2004

Liebe Leonie,

guten Morgen meine Süße! Ich spüre heute, dass es ein besserer Tag wird! Heute bekommst du deinen ersten Verbandswechsel! Und ich hoffe, deiner Lunge geht es heute auch besser! Ich werde mich jetzt gleich auf den Weg zu dir machen! Bis später, Mama.

12. April 2004

Nun geht es dir wieder besser! Du hast jetzt 3 Medikamente weniger und dein Kreislauf bleibt von alleine stabil! Leider schläfst du immer noch!! Ich erzähle dir dauernd von deiner Katze! (Bestechungs- und Kräftigungsversuch meinerseits, hab ihr geflüstert sie kriegt eine Katze wenn sie es schafft!!) Hoffe du hörst mich! Ich fahre heute mal nach Hirschaid, ein paar Dinge erledigen und Kraft tanken für die Zeit wenn du wieder wach bist! Ich freue mich schon so darauf dich wieder zu hören und dich in den Arm zu nehmen!

Als du vor 2 Tagen auf dem Bauch lagst habe ich dir heimlich auf den Rücken geküsst! Konnte mich nicht beherrschen! Ich bin mir jetzt ganz sicher, du wirst gesund! (Auch wenn die blöde Arterie immer noch blutet) Papi ist auch schon unterwegs hierher, er wird bei dir sein wenn ich jetzt nach hause fahre! Ich liebe dich Deine Mami

20. April 2004

Heute wirst du operiert!

Das war bisher der schlimmste Moment hier in Mannheim! Sie haben dich vorbereitet für den OP und dann haben sie dich aus dem Zimmer gefahren! Deinem Papi und mir ging es richtig Scheiße! Ich hoffe alles geht gut! Aber ich weiß du bist ein starkes Mädchen!!

Und ich habe das Gefühl, dass dein Papi und ich uns wieder näher kommen! Ich würde mich freuen, wenn wir wieder eine Familie werden könnten! Ich für meinen Teil werde versuchen alles dafür zu tun! Und ich hoffe Papi auch!

21. April 2004

Heute ist der Tag nach deiner Operation!! Wir haben gestern viele schlimme Dinge erfahren! Deine Verletzungen sind doch tiefer als erwartet und du musst in der nächsten Zeit noch mindestens zwei Mal operiert werden! Ich könnte heulen! Warum kann ich es nicht rückgängig machen!? Warum konnte ich es nicht verhindern? Was wolltest du in der Badewanne?????......

Wenn du dann fertig bist mit deiner Wundheilung, musst du für 2 Jahre einen Kompressionsanzug tragen! Ich glaube das wird ein Stück harte Arbeit für uns alle! Aber ich bin mir sicher wir schaffen das! Ich vermisse dich sehr, auch wenn ich den ganzen Tag neben deinem Bett stehe! Heute durfte ich deinen Mund pflegen und dich im Gesicht eincremen! Das fand ich sehr schön!

Mit Papi verstehe ich mich auch sehr gut! Er hat mir gestern den Rücken gestreichelt, das war total schön! Glaube du wirst dich sehr freuen, wenn du uns wieder zusammen siehst!

Also meine Süße, halt durch und kämpf weiter! Du bist eine Löwin! Ich liebe dich sehr und freue mich auf dein erstes Lachen!

Deine Mami

PS: Denke immer an deine Katze!

29. April 2004

Meine süße Maus!

In der Zwischenzeit ist viel passiert, du bist schon zum zweiten Mal operiert worden! Ist alles gut gelaufen! Aber jetzt hast du sehr stark mit dem Entzug zu kämpfen! Aber du bist wach und extubiert und hast auch schon Fruchtzwerge und Obstgläschen gegessen! Und am ersten Tag nach der Extubation hast du gleich mal einen halben Liter Apfelschorle getrunken! Jetzt hast du allerdings keine Lust mehr zum Trinken! Aber das wird sicher wieder kommen!

Am schlimmsten war es jetzt für mich als du gestern starke Entzugserscheinungen hattest! Du hast ganz arg dein Gesicht verzogen und hast dich gewunden, ich konnte die Angst in deinen Augen sehen! Und ich war so hilflos, da es dir so schwer fiel dich auf mich zu konzentrieren! Ich habe es stetig probiert! Und ich denke du hast gespürt, dass ich da war!!! Es war ein schrecklicher Tag!

Ich freue mich wenn wieder alles normal wird!!

Ich liebe dich! Deine Mama

20. November 2005

Liebe Leonie!

Seit ich das letzte Mal geschrieben habe ist ziemlich viel passiert!

Wir sind wieder eine Familie gewesen! Aber leider nicht sehr lange, es hat nicht funktioniert, und letztendlich hat sich dein Papa auch noch in eine andere Frau verliebt.

Ansonsten hatten wir mit dem Kompressionsanzug tatsächlich eine ziemlich harte Zeit, ich war nie an einer höheren Grenze als im letzten Jahr! Ich hoffe wenn du das hier liest, verstehst du mich etwas besser! Ich würde dir im Moment gerne so viel erklären. Aber du bist noch zu klein!

Aber du bist stark, wie ich es erwartet hatte!! Du hast es geschafft!! Und deine Katze haben wir auch: Frau Schorschi heißt sie! Hoffe sie lebt noch wenn du diese Zeilen liest!

Mir geht es im Moment gar nicht gut! Ich bin zwar sehr froh, dass wir endlich unsere Ruhe haben, aber es ist ganz schön anstrengend! Ich bin mir sicher, wir werden einen anderen lieben Menschen finden, der zu unserer kleinen Familie passt!

Ich hoffe mir gelingt unser Leben, ohne dass du zu viel Schaden nimmst!

Ich liebe dich sehr und bin sehr stolz, dass du meine Tochter bist!

Deine Mama

So, dies war mein Innerstes nach Außen gekehrt aus dieser schweren Zeit!

Ich habe durch diesen Unfall sehr viel fürs Leben gelernt. Vieles sehe ich heute aus einer anderen Perspektive. Vieles wird unwichtig und dagegen auch vieles umso wichtiger. Man läuft ganz anders durch die Welt. Und das Blümchen am Wegesrand wird wieder wichtig und ist plötzlich wunderschön.

Abschließend möchte ich noch sagen, dass in dieser Zeit wohl meine Freunde und meine Familie das Wichtigste waren. Ohne sie wäre ich gnadenlos in allem versunken. Danke!!

Jetzt bin ich selbständige UVM-Behandlerin in Bamberg und freue mich darauf, was das Leben sonst noch so mit mir/uns vorhat.

Es klingt vielleicht komisch, aber letztendlich bin ich dankbar dafür, wie eine Sekunde unser Leben veränderte. Wie achtlos wären wir wohl durch die Zeit gewandelt, wäre das alles nicht passiert.


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